Hubertus von Amelunxen: Bilder sind keine Palindrome – zu Dörte Eißfeldts photographischen Umkehrungen, in: Kat. Ausst. dirty ice – review 2003–2006, hrsg. von Marstall Schloss Ahrensburg, Stormarn 2006.
Suchten wir nach einer Anweisung für unser Leben, die nach keinem Diktat, weder eines Staates noch eines Gottes sich schriebe, nicht der Idolatrie noch Hass oder Verachtung folgte, folgsam stellten wir uns vor jeder Möglichkeit an, die zu unserem Gesetz würde, jedem Weg, jeder Silbe, die uns solchen Raum öffnete. Vielleicht täten wir es jenem Hobbymaler gleich, den Georges Perec zum Helden eines großen Romans machte, und dem er den Titel „Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung“ gab. Dieser Held malte von allen Häfen der Welt über 25 Jahre lang Aquarelle, schickte sie nach Paris zu einem Puzzleschneider, gab diesem den Auftrag, sie nach und nach zu Puzzleteilen zu zerschneiden, und als das letzte gemalt, das letzte zerschnitten war, reiste der Hobbymaler nach Paris zurück, um 25 Jahre lang alle Puzzles wieder zusammenzufügen, nur um sie dann in den Wassern der jeweiligen Häfen, die sie meinten, wieder zu versenken. Ein Leben, das jede Zukunft als Wiederkehr baut, jeden Lauf der Zeit im Rücklauf sieht, nicht prätentiös Welten entwerfend, aber jeder Sekunde, jeder Bewegung kunstvoll huldigend, daß sie da ist, die Zeit, wenn sie auch immer wieder auf uns zurückfällt, aber sie ist da, sie war jetzt. Einige dieser Puzzlestücke haben ihrer Auflösung, ihrer Rückführung widerstanden, von anderer Sehnsucht geführt – nun hängen sie hier in Ahrensburg.
„dog.god“ heißt die Ausstellung von Dörte Eißfeldt, bellen und beten? Nein, innehalten, artikulieren, der Seiltänzerin nachstellen und die Balance suchen zwischen der Fusslänge nach vorne und der Fusslänge nach hinten. Wellen, Wörter, Gletscherseen, Gesichter, Falten, Ausschnitte und Bewegungen; Dörte Eißfeldts Photographien sind Zeitstücke, die sie behutsam in den Raum setzt, zögernd, mit jeder Aufnahme einen Zweifel anbahnend, zart und verletzbar wie ein Augenaufschlag, Töne, kaum zu hören, die unsichtbar angeschlagen werden. Im Deutschen sagen wir „glasen“ und bedeuten den Glockenschlag der Zeitablösung auf dem Schiff, wenn die Wache wechselt; im Französischen heisst„sonner le glas“ den Tod einläuten. Das „Glasen“ hat in der Tat mit dem Wasser, dem Fluss und der Transparenz zu tun. Die Photographien sind durchsengt von einer Stille des Zögerns, des Wartens. Nichts ist sicher, alles ist da und jede Bewegung, jeder Atemhauch mag die Welt verändern, Buchstaben können fallen, ihren Sinn ändern, ihre Richtung, Wassertropfen fliessen aufwärts, Eis ist Bewegung und Stillstand, Wellen kommen und tilgen ihre Spuren und Fortläufiges in Zeitungen drängt plötzlich auf Einhalt. Die Aufblicke sind verrückt, der Schaum der Tage, „L’écume des jours“ (Boris Vian), setzt Bewegung aus, im Moment selbst, da das Fließen zu Bild und Form wird. Dörte Eißfeldts Photographien – und nun sehen Sie mir den Hinweis auf den Eigennamen Eißfeldt nach – bedeuten Übergänge, Benjamin nannte es „Schwellenkunde“; Eisfelder, ja, wie der Gletschersee, da Form und Konsistenz zueinanderziehen oder voneinander fortströmen.
Von dem Palindrom – Zeichenfolgen, die sich in beiden Richtungen, Wort- oder Satzanfang und -ende identisch lesen – sagt man, die Zeichenfolge liefe auch rückläufig. Dörte Eißfeldts Bilder können nicht ein Palindrom sein, denn sie sind Bilder, ohne Anfang noch Ende, zu einem Moment in die Zeit gefallen, selbst wenn Buchstaben sich ins Bild schleichen, wie jene aus dem „Journal“ des amerikanischen Zivilisationskritikers Henry David Thoreau oder bei den Vermutungen möglicher Texte in den repetitiven Figuren der Zeitungsausschnitte. Auf einem Bild der typographierten und aus der Unschärfe gehobenen Schrift von Henry David Thoreau lesen wir: „I am always struck by the centrality of the observer’s position“. Die Photographie kennt eine optische Fokussierung auf die Mitte, auf den Fluchtpunkt. Als Denkbild und als Zeitbild hingegen hat sie die Zentralperspektive durch die Relativierung jeden Augenscheins, jeder machtvollen oder ohnmächtigen Position, verdrängt.
Zwar gab es das schöne Wort der „Umkehranstalt“, in die wir die Bilder zur Entwicklung schickten, in Erwartung der Wiederkehr des Gewesenen, auch mögen Photographien die Welt gegen den Strich bürsten, wiederholbar ist aber keine Photographie. Bilder sind keine Palindrome. Und doch haben die Arbeiten von Dörte Eißfeldt mit der changierenden Zu- und Abnahme räumlicher Gegenwart zu tun, sie verabschiedet nichts im Bild, vielmehr führt sie die Dinge zu einer Entscheidung, sie stellt sie in Erwartung, teilt die Zeit des Blickes ins Künftige hin zu der unmöglichen Umkehrung.