Manfred Schmalriede: Anmerkungen zu den fotografischen Arbeiten von Dörte Eißfeldt,
in: Kat. Ausst: Dörte Eißfeldt, Lichtmontagen und Werkprozesse 1981–1986, Badischer Kunstverein Karlsruhe, 29.1.–15. März 1987.

Dörte Eißfeldt hat 1984 zehn „Doppelbilder“ konzipiert, die den Einblick in ihr Verständnis fotografischer Bilder ermöglichen. „Kleine Schwenks“ hat sie die Serie genannt, die jeweils zwei voneinander unterschiedene Aspekte eines Kamerastandorts zeigen. Auf den ersten Blick lassen sich zwischen den Bildern durchaus Beziehungen wie „vorher und nachher“, „hier und dort“, „nah und fern“ herstellen. Doch diese Kategorien von Zeit, Ort oder Folge, die in vielen fotografischen Sequenzen Gültigkeit haben, reichen nicht aus, um das zu erfassen, was sich hier mitteilt. Oder anders: diese Kategorien werden in Frage gestellt, lässt sich der Betrachter ganz auf die Konstruktionen ein.

Das Nebeneinander in einem Bilderrahmen macht die Bilder gleichzeitig präsent. Das Nacheinander als Zeitablauf ist mehr eine Gewohnheit des Lesens. Der von einem zum anderen Bild wandernde Blick erzeugt das Nacheinander und damit die verschiedenen Ereignisse und Orte und ihre Reihenfolge. Zumindest letzteres lässt sich beim Zurückwandern des Blicks umkehren oder gar aufheben, so dass die Logik linearen Zeitverlaufs zerfällt. Die vermeintliche Bildlogik erweist sich als unsere Konstruktion.
Die Ortsbeschreibungen spielen ebenso wenig eine Rolle , da sie, durch eine Bildeinstellung fixiert, durch eine zweite eigentlich relativiert werden. So könnten auch zwei verschiedene Ansichten eines Gegenstands zwei verschiedene Gegenstände sein. Nicht gleichzeitige Ereignisse am selben Ort kollidieren mit der gleichzeitige Präsenz der zwei Bilder, so dass, um diese Diskrepanz zu überwinden, unabhängig von gewohnten Kategorien, Beziehungen gesucht werden müssen. Das Ineinander von Bildern schafft Überlagerungen, Ablagerungen, Transparenzen. Dieser neue Zustand ist der eigentliche Status eines Bildes, bevor es je etwas anderes ist.
Um den Abbildungsmodus, der dem Prinzip Fotografie als wesentlich inhärent ist, immer wieder aufzuheben, setzt Dörte Eißfeldt ihn so ein, dass er ständig gebrochen wird; die Abbilder werden gegeneinander verschoben und gehen ineinander über. So löst sich das Abbildungsverhältnis und die Bilder werden für Assoziation, Interpretation und Deutung durch den Betrachter frei. Mehrfachbelichtung, Negativdruck, Solarisation und ähnliches erzeugen Verscheibungen in den Sedimenten der Bilder.
Für die Fotografin sind Bilder Gegenwart von Erinnertem. Sie fotografiert ihre Umgebung, sammelt die Fotos, um sie später wieder aufzugreifen. Sie vertraut auf ein „Eigenleben“ der Bilder, auf Verwandlungen und Veränderungen als Nachbilder, die es irgendwann zu aktualisieren gilt. Diesen Vorgang sieht sie selbst so: „Nachbilder sind jene Bilder, die im Hinterkopf ein eigenes Dasein führen, die hervorkommen, sich gegenseitig überlagern und wieder entschwinden, die sich mit Gefühlen wie Angst und Lust verbinden, die Herzklopfen verursachen. Fotos machen bedeutet für mich, mit Nachbildern umzugehen. Es bedeutet, eine Sammlung anzulegen, den Fundus, aus dem sie sich artikulieren lassen. Um die Zustände, die Nachbilder hervorrufen, mit Fotografien zu zeigen und sie entsprechend vibrierend zu präsentieren und aufnehmen zu lassen, müssen Formen gefunden werden, die über das gerahmte Einzelbild hinausgehen, Formen der Montage.“

Die Serie „Essen und Trinken“ suggeriert den alltäglichen Zusammenhang als Rahmen möglicher Assoziationen. Die aus verschiedenen Phasen des Essens in ausschnitthaften Abbildfragmenten fotografierten Speisen, Speisereste, Teller, Schüsseln, Messer, Gabeln, Löffel, etc. werden in einen Kontext schablonenhaft wirkender Zeichen für Tiere, Flaschen, Eier und andere Dinge gesetzt. Weich konturiertes Mobiliar bildet oft den diffusen Hintergrund. Was für die Fotografin schon einmal konkret war und durch die Fotomontage erneut aktualisiert wird kann für den Betrachter nur über das Bild und eigene Erfahrungen zum Gegenstand konkreten Erlebens werden. Ihm sind die verschiedenen Anspielungen nur auf der Ebene der fotografischen Mittel ein kohärentes Ganzes, weniger durch die zufällig fixierten Gesten und Zustände des Essens. Der visuelle Zusammenhang heterogener Momente verführt zum Einstieg. Dabei wäre es Zufall, sollten die Erinnerungen der Autorin mit denen des Betrachters übereinstimmen. Kulturelle Formen wie Essen und Trinken liefern zwar gemeinsame Bezugspunkte, doch können die Gedanken angesichts konkreter Situationen schnell in verschiedene Richtungen abdriften. Diese Variable aufseiten des Betrachters ist einkalkuliert und ist schon im Entstehungsprozess enthalten. Denn das endgültige Montieren der Fotos, so beschreibt es Dörte Eißfeldt, ist auch für sie eine Entscheidung für diese eine gegen viele andere Möglichkeiten.

„Mit der Fotomontage lassen sich neue Wege erschließen, wenn sie als Ergebnis eines lebendigen Prozesses verstanden wird, dessen Ergebnis nicht von vorneherein feststeht, sondern in dem auch entstehen kann, was nicht schon vorher geplant oder bekannt ist. Es können Reihungen, Detailuntersuchungen, spontane Assoziationen sein. Sie ermöglichen es, mit den Augen und den Gedanken zu schweifen, hin und her zu wandern, Punktuelles zu entschlüsseln, zu fassen versuchen, fixe Ideen zu verfolgen, Träume und Erinnerungen wachzurufen und wieder verschwinden zu lassen, fließend, schwankend, undeutlich, besessen, akzentuiert, ohne feste Umrisse und Grenzen – negative Umkehrungen, Drehungen, weder Anfang noch Ende.“
Die Montage hat immer einen Kern experimenteller Haltung dem Bild gegenüber: Annäherung an eine Form, die durch Sujet, fotografische Mittel und verfahren entsteht.
Assoziationen, Erinnerungen werden beim Montieren im Bild konkret, verselbständigen sich zu einem Erlebnis, wobei das Montageprinzip unübersehbar erhalten bleibt. Die Fotomontagen sind nicht Aussagen über irgendetwas, das außerhalb von ihnen existiert, sondern sie markieren das Konkretwerden von Phänomenen, die nur so und nicht anders erlebbar werden.
Da das Mehrfachbelichten, Nachbelichten und Solarisieren und Einkopieren vor und während des Entwicklungsprozesses geschieht, ist der Zufall als Garant für die Zonen der Übergange und Unbestimmtheiten einbezogen. Momente des Unerwarteten sind Voraussetzung für die Offenheit jedes Bildes. Das Wissen, das es auch hätte anders ausfallen können, lässt einen Hauch von Virtualität und Empfindlichkeit aufkommen, der die Fotografin und den Betrachter gleichermaßen irritieren kann.

Zufälligkeit, Vagheit, Empfindlichkeit sind Attribute, die Dörte Eißfeldt in die technisch prägnante Form des Abbildens bringt, um aus dem nüchternen Dokumentieren von Ereignissen selbst ein Ereignis zu machen. Zufälligkeit wird in die Beliebigkeit des Bildermachens eingeschleust, um Überraschungen zu provozieren. Vage und ungewisse Phasenübergänge während der Entstehung schlagen sich im Bild diffus und unbestimmbar nieder. In dieser Labilität liegt das virtuelle Moment, das der Betrachter oft genug als Ungewissheit oder Unsicherheit erlebt. Durch diesen Zustand wird jede Interpretation Anstrengung und Experiment mit ungewissem Ausgang.
Die Empfindlichkeit des Bildes liegt in den Tiefen und Übergängen, den Umkehrungen der Positive, in der Unbestimmtheit von Nähe und Nachbarschaft verschiedener Bildfragmente. Sie verdichtet sich in der Figur des „Fliegers“, der alle Bezugspunkte verloren zu haben scheint und als Motiv in vielen Bildern auftaucht. „Flieger“ in der Luft, „Schwimmer“ oder „Taucher“ im Wasser suggerieren Schweben. Der Körper scheint schwerelos im Wasser zu verharren, umgeben von Wasser wie ein Fötus im Mutterleib. Dieses Moment meint genau das, was Bild bei Dörte Eißfeldt bedeutet: Virtualität bevor Interpretation eingreifend aktualisiert und modifiziert.

Der Taucher im Wasser wird zum Sinnbild kontinuierlicher Veränderung. Transitorisch nennt Dörte Eißfeldt diesen Zustand. Eine Schlüsselfunktion futuristischer Intentionen hatte das Bild „Die Schwimmer“ von Carlo Carrà aus dem Jahr 1910. Mit diesem Bild wurde die von den futuristischen Malern in ihrem Manifest von 1910 ausgegebene Parole „wir werden den Betrachter in den Mittelpunkt des Bildes setzen“ vorstellbar. Diese neue Einstellung ermöglicht neue Bildformen, zu denen der analytische und synthetische Kubismus die Voraussetzungen schuf, und die durch das Collage- und Montageprinzip der Dadaisten und Surrealisten ausgeweitet wurden. Auch die Fotografie entsprach mit Fotogrammen und Fotomontagen dieser neuen Bildauffassung.
Ein ausgeprägtes Bewusstsein für diese „Betrachtererlebnisse“ hatten schon die italienischen Manieristen des 16. Jahrhunderts entwickelt, allen voran Jacopo Tintoretto zum Beispiel mit seinem Bild „Ariadne, Bacchus und Venus“ von 1578. Menschliche Körper schweben durch die Lüfte als existiere für sie die Schwerkraft nicht. In Bildern wurde der Traum vom Fliegen herstellbar, wenn auch nur als Projekt. Diese Art zu fliegen, ist, trotz tatsächlicher Flugmaschinen, in den Heroen Superman und Batman durchaus populär geblieben. Dass die Besatzung eines Raumschiffes tatsächlich den Vorstellungen in Mythen und Bildern nahekommt, setzt letztere nicht außer Kraft, sondern lässt sie eher konkreter werden.

Sind Bilder Ersatz für konkrete Erfahrungen? Die Nähe und Aktualität der Beispiele lenkt allzu schnell ab von dem, was diese Bilder gerade wieder freilegen: Vorstellungen, Wünsche, und Erinnerungen werden konkret in der Fiktion. Nur das Fiktive gibt dem Betrachter seine Freiheit, seine Bedeutungen einzubringen und die Komplexität und Konstruierbarkeit seines Sinnverständnisses zu erleben. Es sind Kindheitserinnerungen an das „Schlaraffenland“, die solche Erlebnisse zulassen. Was im Märchenbuch präsent war, wird mit der „magischen Welt“ des Fotos zurückgeholt. Doch ist das Foto die Gegenwart einer Erinnerung, die es so eigentlich nie gegeben hat. Sie ist das, was das Foto daraus macht. Die Serie „Schlaraffenland“ bringt Andeutungen gegenständlicher Umrisse schon in den Formaten: eine Königskrone, einige Burgzinnen. Die Begrenzung der Bilder auf das Rechteckformat scheint das letzte Hindernis auf dem Weg zum offenen Bild.

In einer Porträtserie ist die Konfrontation von Abbild und Bild noch einmal thematisiert, wie sei latent hinter jeder der Arbeiten von Dörte Eißfeldt steht. Das fotografierte Gesicht fordert ein Gegenüber, zwingt zur Draufsicht, grenzt sich ab vom Betrachter. Ein Porträt betrachten, heißt feststellen: hier ist jemand anderes außer mir. Auch wenn dieser andere nur durch ein Bild präsent ist, erlebe ich ihn als fremd. Der Porträtierte schaut uns an, nicht so die Dinge, die wir betrachten. Das Porträtfoto repräsentiert ein Individuum, das existiert oder existiert hat. Die Repräsentation bringt das Foto in die Abhängigkeit zum Porträtierten und macht es zum Abbild. Um den Status des Bildes wiederherzustellen, greift die Autorin ein. Sie verdeckt Gesichter, verwischt ganze Partien, drängt sie durch Rahmung zurück, lässt sie nur vage durchscheinen, kehrt das Positiv zurück ins Negativ, um sie der Konfrontation zu entziehen. Die Negativdrucke erzeugen dabei die Transparenz von Röntgenbildern und der Blick geht durch das Bild hindurch. Die Porträts verschwinden in der subjektiven Auslegung und die aufgehobene Distanz lässt nur noch Reste der Zeichen zu, die außerhalb des Bildes relevant sind. Solche äußerst subjektiven Eingriffe geben Einblick in eine vom Subjekt entworfene Welt, die der Umgang mit der Fotografie gegen deren eigenes Prinzip möglich macht.